Annette Pehnts Reiseroman „Alles was Sie sehen ist neu“ ist exakt zu dem Zeitpunkt erschienen, als „Corona“ unsere Bewegungsfreiheit beschnitten hat. Und doch könnte es so nicht besser passen. Denn während wir um diese Zeit normalerweise bereits unsere Koffer packen, Rücksäcke schnüren und nach preisgünstigen Flugreisen ins Ausland fahnden, müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir dieses Jahr zuhause bleiben werden. Und haben damit vielleicht die Zeit gewonnen, mit der Lektüre dieses Romans über das Reisen in fremde Länder nachzudenken.  Wie jedes Jahr begleitet die Ich-Erzählerin des Romans ihren alten Vater auf die gemeinsame Bildungs- und Gruppenreise. Der Vater lädt ein, also sucht der Vater aus. Diesmal hat er sich für „Kirthan“, in dem wir China zu erkennen glauben, entschieden. Im ersten Kapitel begleiten wir Vater und Tochter inmitten einer bunt gewürfelten Reisegruppe   durch die ersten zwei Tage in Kirthans Hauptstadt. Es sind anstrengende Tage zwischen leicht entflammbarer Gruppendynamik und dem ermüdenden Abgleichen von Wissen, Hörensagen und tatsächlich Gesehenem. Ein Dschungel von Eindrücken, der sich jedem Ordnungsversuch entzieht. Und keine Hilfe von Nime, dem undurchschaubaren einheimischen Reiseleiter. Verwirrt und erschöpft schläft die Erzählerin ein.

Völlig unerwartet betreten wir in den nun folgenden Kapiteln eine andere Welt mit anderem Personal. In sechs Erzählungen entfaltet sich eine Geschichte, die um die einzige Figur kreist, die wir bereits kennen: Nime, ein kleiner Junge, der in einem Dorf aufwächst, später auf die höhere Schule geht und über verschlungene Wege Touristenführer in Kirthans Hauptstadt wird. 

Im achten Kapitel treffen wir wieder auf die Reisegruppe, die an diesem Morgen aber fassungslos ist: Reiseleiter Nime taucht nicht auf….

Annette Pehnt ist ein inspirierender Roman gelungen. Gekonnt spielt sie mit Erwartungen, die sie nicht erfüllen will. Sie arbeitet mit Erzählkonventionen, die sie gezielt bricht. Und sie hat den Mut, bei ihren Lesern Lust am Nachdenken und Fantasieren vorauszusetzen. Ein knapper Stil und Bilder, die aus feinster Beobachtung heraus entstehen, sind dafür die passenden literarischen Mittel. 

Langsames Lesen tut Literatur immer gut. Bei Annette Pehnt gilt dieser Grundsatz jedoch ganz besonders: Nur in der Ruhe entfalten sich ihre Skizzen zu Geschichten des Lebens. Und um die geht es der Autorin. „Die Menschen brauchen Geschichten“, stellt dann auch die heimliche Hauptfigur des Romans, der geliebte, kunstsinnige und gebildete Vater der Erzählerin fest. Denn alles Wissen ist nutzlos, wenn wir es nicht erzählend in unser Leben holen. Das gilt nicht nur auf Reisen, sondern auch zuhause. 

(sig März 2020)