Penguin Verlag, München. 2021

„Jedes Mal, wenn ich mein Gleichgewicht verloren hatte, fand ich es Wochen oder Monate später wieder, jedenfalls fühlte es sich so an.“ So fasst Johannes Wagner, der Ich-Erzähler aus Matthias Jüglers jüngst erschienenem Roman „Die Verlassenen“ sein Ringen um ein Leben voller Verluste, Verletzungen und Enttäuschungen zusammen. Ein Leben, das 1981 in Halle/DDR beginnt. 1986 verliert er die Mutter, 1994 verlässt der Vater den 13jährigen und lässt nie mehr von sich hören. Als Johannes 19 Jahre alt ist, stirbt die Großmutter. Da ist er schon der Eigenbrötler, der abseits steht und sich mit seinem Alleinsein arrangiert hat. Johannes macht Abitur, studiert in Halle Wirtschaftswissenschaften, verrichtet ruhig seine Arbeit in der städtischen Verwaltung, lernt Katja kennen, zeugt ein Kind mit ihr, als er bereits an Trennung denkt. Da entdeckt er den Brief, der „alles änderte, nicht nur meine Zukunft, sondern vor allem meine Vergangenheit beziehungsweise das, was ich dafür gehalten hatte.“

Der Leipziger Autor Matthias Jügler hat in seinem zweiten Roman „Die Verlassenen“ so geschickt die Erzählzeiten und das Tempo gewählt, dass man beim Lesen in Atemnot gerät. Das Geheimnis des Briefes, das erst gegen Ende des Romans preisgegeben wird, treibt mächtig voran. Die stets dazwischen geschobenen Rückblenden verharren dagegen in Erzählräumen voller Erinnerungsschmerz und Kindheitsglück. So zurückgenommen die Sprache ist, so kurz die Bildeinstellungen sind, schnell wird deutlich, dass es hier nicht nur um die Not eines verlassenen Kindes, sondern auch um die eines verlassenen Vaters, einer verlassenen Großmutter, einer verlassenen Gesellschaft geht. 

In seinem Stil der Verknappung schöpft Matthias Jügler alle Möglichkeiten aus, um Schweigen und Verschwiegenheit spürbar zu machen. Wer wusste was, wie viel, zu welchem Zeitpunkt? Wusste man es wirklich oder waren es nur Vermutungen? Was war „es“ genau? Das Kind Johannes jedenfalls war viel zu jung, um die menschlichen Abgründe, die sich mit der Stasi auch noch in den letzten Jahren der DDR verbanden, nur zu ahnen. Fünf Jahre kindliches Glück, dann Aufwachsen in der väterlichen Sprachlosigkeit, Erwachsenwerden in großmütterlicher Nachsicht, keine kontroversen Diskussionen, keine Gespräche, die eine Selbstverortung anstoßen könnten: Das bedeutet verlassen geworden zu sein, das hat für immer sein Leben beschädigt. Warum Johannes verlassen wurde und der ungeheuerliche Verrat, auf dessen Spur er erst mithilfe des Briefes kommt, sind in der perfiden Akribie des Ministeriums für Staatssicherheit zu suchen. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. 

Was dagegen verraten werden muss, ist der Schluß von Matthias Jüglers Roman. Er ist versöhnlich und doch sehr bestimmt: Auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall müssen die Geschehnisse in der DDR, müssen beschädigte Leben und Verlassene weiterhin gesehen und gehört werden. Rache heilt keine Wunden, Anklage greift zu kurz, nur ein gesamtdeutscher Dialog auf Augenhöhe wird der Geschichte gerecht.  

(Eva Sigrist, Mai 2021)