Dass der Lyriker auch ein begnadeter Erzähler ist, hat Lutz Seiler (*1963 Gera) berei 2014 mit seinem ersten Roman „Kruso“ bewiesen, für den er prompt mit dem Deutsch Buchpreis ausgezeichnet wurde. Mit „Stern 111“ hat es nun wieder geklappt. im März 2020 gewann Seilers neuster Roman den Preis der Leipziger Buchmesse.
Stern 111: Es sind die Tage, die Wochen, die Monate nach dem Mauerfall. Erzählt wird die Geschichte der Familie Bischoff aus Gera. Die Eltern Inge und Walter, beide Anfang 50 verlassen wenige Tage nach der Grenzöffnung die alte Heimat, das alte Leben. Es geht westwärts. Natürlich. Sie wollten schon immer weg. Carl, der 26 jährige Sohn, soll die Wohnung, das dort „lebenslang Zusammengetragene“ hüten. Carl ist irritiert. Verunsichert. Überrumpelt. Doch er bleibt. Während er die Wohnung kaum verlässt und allein vom Eingemachten der Mutter lebt, feilt er sorgfältig an einem Gedicht. Einige Verse gelingen. Der Rhythmus passt. Das ist es. Das ist Poesie. Carl will schreiben. Dichten. Er hält noch ein paar einsam lange Tage die Stellung, dann holt er den alten Shiguli des Vaters aus der Garage und fährt nach Ost-Berlin.Dort lebt Carl auf der Straße, schläft im Auto, bis er auf das „kluge Rudel“ trifft: eine Gruppe von Leuten, die die verlassenen, heruntergekommenen Wohnungen des Gründerzeitviertels zwischen Oranienburgerstraße und Prenzlauerberg besetzt und während der Schwellenzeit – zwischen DDR-Auflösung und Wiedervereinigung – die Utopie erprobt. Jetzt ist der Moment da: Etwas Neues, Anderes, Besseres liegt greifbar in der Luft. Eine freie und solidarische Welt. Eine neue Form des Zusammenlebens. Carl schließt sich den Leuten an. Als gelernter Maurer bringt er sich ein, hilft beim Umbau der Kellerkneipe „Die Assel“ und bedient dort die Gäste, die „neue Gesellschaft“ aus Arbeitern und Prostituierten, aus russischen Soldaten und Künstlern. Er bezieht die erste eigene Wohnung mit einem Matratzenfloß als Bett und einer Werkbank als Schreibtisch. Sein Ziel Dichter zu werden, verliert er nicht aus den Augen. Verwundert liest er die Briefe der Mutter über das Leben im Westen. Über das tägliche Ringen der Eltern, ihre Versuche sich etwas aufzubauen, über all die holprigen Fortschritte, über all die bitteren Rückschritte. Als dann noch Effi auftaucht, Carls unerfüllte Liebe aus der Schulzeit, glaubt er sein neues Zuhause, sein neues Leben gefunden zu haben.
Mit „Stern 111“ ist Lutz Seiler ein poetischer, atmosphärisch dichter Roman gelungen. Die beiden Erzählstränge, die Eltern-Geschichte und die Carl-Geschichte, erzählen jeweils ein ganz eigenes Coming-Of-Age. Es geht um das Verwirklichen von Träumen. Von individuellen und kollektiven Träumen. Von lange aufgeschobenen und noch gar nicht richtig bewussten. Von Hindernissen und Abstrichen. Im kurzen Moment des Umbruchs und der Anarchie in den Jahren 1989/1990 erschien so Vieles möglich. Es geht um den eigenen Weg, den jeder für sich finden und gehen musste. Allein, zu zweit, im Rudel. Lutz Seiler eröffnet uns mit „Stern 111“ einen Blick in die Hausbesetzerszene Ost-Berlins und damit einen Blick in ein vielleicht unbekanntes Kapitel deutsch-deutscher Geschicht. Und er erzählt uns das alles in einer berührend menschlichen Sprache. Der Romancier isti ein Dichter. (Gudrun Dittmeyer)