Im Berlin von Laura Lichtblaus Debütroman „Schwarzpulver“ ist die Zeit ein Stück weit in die Zukunft gedreht. Nicht viel. Nur eine kleine Verschiebung ins Morgen oder Übermorgen. Die letzten Spuren einer progressiven Stadtgesellschaft mit ihren Debatten um Geschlechtergerechtigkeit und Diversität sind im öffentlichen Raum noch deutlich sichtbar: Der zentrale Platz im Romangeschehen ist nach der Frauenrechtlerin Anita Augspurg benannt, die um 1900 gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Lida Heyman radikalfeministische Positionen vertrat. Doch schon ist alles ganz anders. Eine rechtsautoritäre Partei ist an der Regierung und hat sich mit dem Platz auch die Diskurshoheit zurückerobert: Bewaffnete Bürgerwehrler patrouillieren, von der Rednerbühne propagieren Parteimitglieder ein rückständiges Geschlechter- und Familienbild. Heimat und Tradition. Die alte Ordnung. Darum geht es jetzt wieder.
In dieses düstere Außenszenario setzt Laura Lichtblau ihre drei Figuren, drei Vertreter*innen des „alten“ Berliner Lebensgefühls und lässt sie abwechselnd, in kurzen Kapiteln erzählen. Da ist Elisa, genannt Burschi, die aus der homophobenEnge ihres bayrischen Heimatdorfs ins freizügige Berlin (ent-)kommt.Sie arbeitet als Gesellschafterin bei einem alten Ehepaar,lässt sich aber vomerbschleicherischen Neffen in „hinterrückse“ Sachen hineinziehen und verscherbelt heimlich deren Hab und Gut. Doch dann trifft sie auf Johanna und eine unbeschwerte Amour fou könnte beginnen, wenn das „Ministerium für Volksgesundheit“ das Begehren der Menschen nicht rigide kontrollieren würde.
Und da ist Charlotte Venus, die sich früher als trotzig-emanzipierte Frau und alleinerziehende Mutter tapfer durchkämpfte. Nun ist ihr Lebensentwurf schon lang zerbröckelt: Ihre Arbeit als Keramikerin gibt nichts mehr her und der 19-jährige Sohn Charlie entgleitet ihr. Als ihre (Existenz-)Ängste überhand nehmen – „Ich fühle mich nicht mehr sicher“ -, gründet sie mit Gleichgesinnten eine Bürgerwehr. „Die Partei“ nimmt die Truppe unter ihre Fittiche und bildet Charlotte zur Präzisionsschützin aus. Plötzlich patrouilliert sie über den Anita-Augspurg Platz und hält „Vorträge über Sicherheit in der Straßenbahn“. Charlotte spürt, irgendwas läuft schief, ein „Problem mit der Energie und dem Lebenswillen“, dem sie nicht mit Yoga und alternativen Heilmethoden beikommen kann.
Schließlich Charlie, der sich endlich aus der Beziehung zu seiner überfürsorglichen Mutter lösen will und ein Praktikum bei einem Hip-Hop Label beginnt. Doch der Schritt in die Berliner Subkultur bringt keine tatsächliche Befreiung. Während die Rapper über Ausbeutung, Unterdrückung und Widerstand singen, gerieren sich die beiden Macher des Labels, die beiden Alpha-Männer Alf und Ante als coole Kumpels mit noch cooleren Sprüchen, die sich mit der staatlichen Überwachung arrangieren und Charlie unbezahlt als „Mädchen für alles“ schuften lassen.
Wie nebenbei verhandelt Laura Lichtblau in den Geschichten ihrer Protagonist*innen, wie die Erfahrungen der Vergangenheit die Befindlichkeiten der Gegenwart prägen und wie Privates und Politisches unmittelbar ineinandergreifen. Dabei lässt gerade die innenperspektivische Erzählhaltung die kleinen und großen Ambivalenzen, die Widersprüchlichkeiten, aber auch die Irrationalitäten und Verfehlungen im (zwischen-)menschlichen Tun zu Tage treten. Anspruch und Wirklichkeit klaffen nicht selten auseinander, Affekte kommen den eigenen Vorsätzen andauernd in die Quere. Laura Lichtblau inszeniert das alles mit viel Sinn für Humor und Situationskomik. WieCharlotte, völlig entnervt vom frauenfeindlichen Geschwätz und übergriffigen Verhalten, ihrem Bürgerwehrkollegen Benno beim Essen in der Kantine die Gabel in die Hand donnert, ist ein veritables Bravourstück.
Doch ein besonderer Coup gelingtLaura Lichtblau dadurch, dass sie das erschreckend realistische Setting eines Berlins von übermorgen aufbricht und eine weitere Ebene mit ins Spiel bringt: Das Phantastische hält Einzug und zwar – ironischer Weise – im Gewand eines alten Aberglaubens. Nicht von ungefähr spielt die Geschichte in der Zeit zwischen den Jahren, in den sogenannten Rauhnächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest, wenn die „Wilde Jagd“, wenn „die Geister über den Himmel ziehen“. Dieser Geisterzauber, der nach Schwarzpulver riecht und in den Turnschuhen von Burschis volatiler Geliebten Tierhufe statt Menschenfüße ertasten lässt, bei dem blitzende Lichter am Himmel erscheinen und heulende Wölfe am Waldrand, verschafft dem Roman einen irreal-verrückten Dreh und weckt eine neue, befreiende Vitalität, die sich am Ende des Romans „in langsam entstehenden Aufruhr“ wandelt. Widerstand gegen den Rechtsruck baut sich auf.
Mit all der Freude am subversiven Spiel reiht sich Laura Lichtblaus Roman „Schwarzpulver“ in die karnevalistische Literaturtradition und ruft so Michail Bulgakows Jahrhundertwerk „Der Meister und Margarita“ in Erinnerung. Hier ist es der Teufel höchstpersönlich, der als Voland im stalinistischen Moskau der 30er Jahre ein diabolisches Feuerwerk entzündet, die ganze Stadt in Aufregung versetzt und die Perfidien und Bigotterien eines totalitären Regimes und die sich damit arrangierende Gesellschaft entlarvt. (Gudrun Dittmeyer)
Erschienen in der online-Ausgabe von Volltext, 30.November 2020
Laura Lichtblau. Schwarzpulver. Verlag C.H. Beck. München 2020. 18,95 Euro