„München, 1946. November. Dünner kalter Nieselregen auf Schutthalden, Steinhaufen, ausgebrannte Fassaden, verkohlte Grundmauern, verschmutzte, ungeräumte Straßen mit zerlöchertem, zersprengtem Pflaster. Eine Trümmerstadt, unvorstellbar für jeden, der München heute kennt, der es vor dem Zweiten Weltkrieg kannte. […] In all dieser Trostlosigkeit, in der finsteren Bahnhofshalle […] zwischen den halbzertrümmerten Häusern, in dem mit Unrat gefüllten Bombentrichtern lungern Kinder herum. Kinder – noch ärmlicher gekleidet, noch blasser als die Erwachsenen. Manche besitzen keine Schuhe mehr, laufen auf den durchlöcherten Socken oder barfuß. […]
1946. München. November. In irgendeinem Besatzungsbüro, in dem ich etwas zu tun habe […] kommt eine Frau in der Uniform der amerikanischen Armee auf mich zu, und ich ergreife die Flucht.“
Diese Passagen sind nachzulesen in Carl Zuckmayers Vorwort zu Jella Lepmans Lebensbeschreibung „Die Kinderbuchbrücke“ (1964). Er schreibt weiter: Er, Zuckmayer habe vor Frauen in Uniform „panische Angst“. Aber die Frau jetzt hat „die treuherzigsten, freundlichsten Augen, die je einer Uniform Hohn gesprochen haben“, und was er hört, „das kommt in einem so uneingeborenen und nie abzulegenden Schwäbisch heraus, wie es höchstens von Theodor Heuss übertroffen werden konnte.“



Es ist  Jella Lepman, die hier so auf ihn einschwäbelt: Denn sie hat eine Mission. Sie bittet um Hilfe. Sie braucht Spenden. Aber keine Geldspenden. Sondern Bücherspenden. Bücher für Kinder. Märchenbücher. Bilderbücher. Schulbücher. Nicht nur deutschsprachige Bücher. Sondern vor allem auch Bücher aus anderen Ländern, in anderen Sprachen. Es ist absolut lebensnotwendig. Für Deutschland. Für Europa. Ja, für die ganze Welt. Jetzt, nach dieser unglaublichen Niederlage der Menschlichkeit. Jella Lepman glaubt an eine neue, eine humanere Welt und sie will sich mit Haut und Haaren dafür einsetzen. Sie weiß auch schon wie: „Bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt wieder ins Lot zu bringen.“ Der erste Schritt: eine internationale Kinderbuchausstellung im Herbst 1946 in München. Die gezeigten Bücher – mehr als 4000 Stück sind es – haben ihr Verlage aus der ganzen Welt zugesandt. Und zwar kostenlos. Als Geschenk. Als Beitrag zur Weltöffnung nach zwölf Jahren NATIONALsozialismus und Feindschaft mit fast ganz Europa. Dann der zweite Schritt, drei Jahre später: 1949 eröffnet Jella Lepman in einer wunderschönen alten Villa in der Münchner Kaulbachstraße die Internationale Jugendbibliothek mit 8000 Kinderbuchtiteln, verfasst in mehr als zwanzig Sprachen.

Heute ist die Internationale Jugendbibliothek im Schloss Blutenburg in Mü-Obermenzing angesiedelt. Eine ganze, wunderbar romantische alte Burg voller Bücher für Kinder, in allen Sprachen der Welt. Eine verwunschene Burg mit einer Ausleih- und einer Spezialbibliothek, mit einem Michael Ende Museum und einem James Krüss Turm, mit Räumen für Ausstellungen und Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene und einem internationalen Stipendiatenprogramm für Literaturwissenschaftler*innen. Die Internationale Jugendbibliothek ist weltweit die größte ihrer Art und anerkanntes Zentrum für die Jugendbuchforschung.

Und Jella Lepman? 1891 in Stuttgart in eine bildungsbeflissene, jüdische Familie hineingeboren, – übrigens die Cousine des Sozialphilosophen Marx Horkheimer – zeigte sie bereits als junges Mädchen drei Charakteristika: Durchsetzungsfähigkeit, Literaturbegeisterung und ein riesengroßes Herz für Kinder. Früh verwitwet zog sie ihre beiden Söhne alleine auf und arbeitete als Redakteurin. 1936 floh sie vor der Judenverfolgung nach London und schlug sich dort mit journalistischen Arbeiten durch (in den letzten Kriegsjahren zusammen mit Golo Mann als Korrespondentin der BBC und der American Broadcasting Station in Europe). Gleich nach Kriegsende wurde sie von der Amerikanischen Militärbehörde zum Special Advisor for Women’s and Youth’s Affairs im Reeducation Programm eingesetzt – und kam im Oktober 1945 NACH BAD HOMBURG, zum US-Hauptquartier. In einem Jeep mit Chauffeur  durchs Land kutschiert, stieß ihr neben all der Zerstörung, neben all dem Mangel am Notwendigsten, vor allem auch die geistig kulturelle Misere auf. So wurde die Idee der Internationalen Jugendbibliothek geboren, umgesetzt und zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte entwickelt. Jella Lepman selbst gab Anthologien mit Kindergeschichten heraus und regte einen ihrer engsten Freunde, den Schriftsteller Erich Kästner zu seinem Buch „Die Konferenz der Tiere“ an. Doch die Begrenzung auf München, auf Deutschland reichte ihr nicht. Sie beschloss ihr Lebenswerk 1953 mit der Gründung einer Weltorganisation, der  weltweit agierenden Plattform International Board on Books for Young People (IBBY) für Fachleute der Kinderliteratur, die u.a. den Hans-Christian-Andersen Preis für Kinderbuchautor*innen und Illustrator*innen und den Deutschen Jugendliteraturpreis vergibt. Vor fünfzig Jahren, am 04.Oktober 1970 starb Jella Lepman im Alter von 79 Jahren in Zürich.

Aber nicht nur in München hat Jella Lepman Spuren hinterlassen, sondern auch in Hessen: Während des kurzen Aufenthalts in Bad Homburg lernte sie Gabriele Strecker kennen und sorgte maßgeblich dafür, dass die Ärztin ihr Metier wechselte und zunächst beim Frankfurter Radio, dann beim Hessischen Rundfunk für den Frauenfunk verantwortlich wurde – eine ungemein wichtige Stimme für ein fortschrittliches, emanzipiertes Frauenbild.

Jetzt ist im Antje Kunstmann Verlag Jella Lepmans Buch Die Kinderbuchbrücke neu aufgelegt worden. Und meine Empfehlung lautet: Lesen! (Gudrun Dittmeyer)